„Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind.“ (Friedrich Engels).

 

 

Rede von Egon Krenz auf einem Forum in Peking

 

 

 

 

 

Thema des Forums:

 

Der Marxismus im 21. Jahrhundert.

 

Themenkreis für die Diskussion: 

 

 

 «Der Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Wiederbelebung des Sozialismus»

 

 

Thema des Diskussionsbeitrages von Egon Krenz:

 

 

«Die Niederlage der DDR –Teil des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus in Europa»

 

 

 

Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,

 

 

Rolf Berthold, langjähriger Botschafter der DDR in der Volksrepublik China, und ich sind als Zeitzeugen zu

dieser bedeutenden Konferenz gekommen. Gern nehme ich auch seine Redezeit für mich in Anspruch.


Seit 1984 habe ich an den Beratungen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Staaten des

Warschauer Vertrages auf höchster politischer Ebene teilgenommen.

Aus eigenem Erleben kann ich daher bezeugen, dass die Partei- und Staatsführungen der sozialistischen

Staaten Europas auf die seit Anfang der achtziger Jahre entstandene tiefe Systemkrise nicht vorbereitet

waren.

Im Oktober 1981 hatte KPdSU-Generalsekretär Breschnew Erich Honecker mitteilen lassen, dass sich die

Sowjetunion in einer ähnlich schwierigen Lage befände wie Sowjetrussland 1918 vor Abschluss des Brester

Friedensvertrages.

 

Das konnte ja nur bedeuten: Es ging um Sein oder Nichtsein der Sowjetmacht!


Die Tragik besteht darin, dass diese dramatische Mitteilung nie durch die Staaten des Warschauer Vertrages

kollektiv erörtert wurde und folglich daraus auch keine Schlussfolgerungen gezogen wurden.

Das Nachlassen der ökonomischen Leistungskraft der RGW-Länder hatte große wirtschaftliche, soziale und

schließlich auch politische, ideologische und moralische Auswirkungen auf die Bevölkerung.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Staat wurde in allen Ländern der sozialistischen

Staatengemeinschaft erheblich gestört.


Versäumt wurde, die ökonomischen Potentiale mit dem Ziel zu vereinen, den Rückstand in der

Arbeitsproduktivität gegenüber dem Kapitalismus aufzuholen.

Die Staatengemeinschaft erwies sich als unfähig, den Sozialismus mit der wissenschaftlich-technischen

Revolution zu verbinden.

Ansätze unterblieben in der Regel stecken aus nationalem Egoismus von Teilnehmerstaaten.

Gleichzeitig gab es keine kollektive Zurückweisung der Provokation von US-Präsident George Bush Senior,

der die NATO Länder aufgefordert hatte, die Sowjetunion – ich zitiere – « in die Wertegemeinschaft des

Westens» zu holen, was gleichbedeutend mit der Liquidierung des Sozialismus war.


Die «Perestroika»- und «Glasnost-Politik» der sowjetischen Führung gab keine konstruktive Antwort auf die

entstandene Systemkrise. Sie trug nicht zu einer «Erneuerung des Sozialismus», sondern zu seinem

europäischen Niedergang bei.

Aus der von Gorbatschow beabsichtigten «zweiten Oktoberrevolution» wurde letztlich eine Konterrevolution,

die von verschiedenen Fraktionen in der KPdSU initiiert wurde und letztlich zur Zerschlagung der UdSSR

führte.


Das Schicksal der DDR war in guten wie in schlechten Zeiten auf das Engste mit dem der Sowjetunion verbunden.

 

 

Auch wenn sich die DDR kalendarisch vor der Sowjetunion aus der Geschichte verabschiedet hatte, ist ihr

Untergang ursächlich mit dem der Sowjetunion organisch verbunden.

Die UdSSR stand 1949 an der Wiege der DDR und sie hat schließlich auch mit ihrer Unterschrift unter den

«Zwei plus Vier – Vertrag» ihren Untergang besiegelt.


Mit dem Verschwinden des europäischen Sozialismus von der politischen Landkarte wurde die deutsche

Zweistaatlichkeit obsolet, verlor die DDR ihre Daseinsberechtigung als selbständiger Staat.

 

Für zwei kapitalistische deutsche Staaten gab es weder objektiv noch subjektiv eine Notwendigkeit.


Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist aber, dass das Streben der von den USA-geführten NATO

um die Neuordnung der Welt eng verbunden ist mit einem erbitterten ideologischen Kampf um die

Deutungshoheit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und damit auch des real existierenden Sozialismus

auf dem europäischen Kontinent.


Der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts war legitim.

Der Begriff «realexistierender Sozialismus» bedeutete ja nicht – wie das gewisse Ideologen unterstellen –

dass wir den Sozialismus bereits in Vollkommenheit verwirklicht glaubten.

Vielmehr wurde damit das dialektische Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit betont.

Es galt, die Realität am Ideal auszurichten, was selbstverständlich als ein langwieriger historischer Prozess

verstanden wurde.

Zudem bedeutete dieser Begriff eine Abgrenzung von allen möglichen pseudosozialistischen Theorien,

die im Gegensatz zu Marx, Engels und Lenin standen, vor allem zu der Utopie, es könnte einen

fehlerfreien Sozialismus ohne Widersprüche geben.


Die historisch korrekte, differenzierte und damit gerechte Bewertung des vergangenen Sozialismus ist ein

Zukunftswert.

Wer für einen neuen Sozialismus kämpfen will, muss sowohl die Vorzüge als auch die Unvollkommenheiten

des vergangenen analysieren.

Dies schließt ein, Antworten auf die Fragen zu finden:

Was ist bewahrenswert am gewesenen Sozialismus und was darf sich nicht wiederholen?

 

Dabei ergeben sich zwei Grunderkenntnisse.

Zum einen hat sich erwiesen, dass Sozialismus auch im Zentrum Europas möglich ist.

Zum anderen wurde deutlich, dass der Sozialismus auch in der DDR im Wettbewerb der beiden

Weltsysteme noch nicht bestehen konnte.


Gegenwärtig erleben wir eine absurde Erinnerungskultur.

Die Schuld an der Spaltung des europäischen Kontinents wird einseitig der Sowjetunion angelastet.

Mit einem nur auf Fehler, Mängel und Unzulänglichkeiten des realen Sozialismus sowie auf die

Person Stalin verengten Blick wird die Geschichte Europas auf den Kopf gestellt.


Zur Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird vor allem die Totalitarismusdoktrin benutzt.

 

Sie hat eine antikommunistische und antisowjetische Ausrichtung.

Sie enthält die Behauptung, rot sei gleich braun, d. h. Sozialismus sei gleich Faschismus.

Das ist nicht nur eine Diskreditierung des gewesenen Sozialismus.

Es ist vor allem auch eine Verharmlosung des deutschen Faschismus.


Der weltweit geschätzte deutsche Schriftsteller Thomas Mann wandte sich frühzeitig gegen die Gleichsetzung

von Sozialismus und Faschismus als er schrieb:


»Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil

beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus.

Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund

ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein,

mit vollem Hass aber allein den Kommunismus bekämpfen.»

 

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Gründung eines Staates in Ostdeutschland weder

von der UdSSR noch von der SED gewünscht.

Die UdSSR hatte an einer Spaltung Deutschlands aus eigenen Sicherheitsgründen kein Interesse.

Wäre es nach dem Willen der UdSSR sowie der Kommunisten und Sozialdemokraten der sowjetisch besetzten

Zone gegangen, wäre aus Deutschland – ich zitiere - „ein antifaschistisches, demokratisches Regime, eine

parlamentarisch-demokratische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“

geworden.


So steht es im Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945, der mit Stalin vereinbart

worden war.

Und weiter heißt es dort: „Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem

aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen

in Deutschland“.

 
Die DDR entstand also erst, nachdem die Westmächte im Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland

gegründet hatten.

Die DDR wurde nicht gegründet, um Deutschland zu spalten.

Deutschland war bereits gespalten, als die DDR gegründet wurde.

 

Die Geschichte zwischen 1945 und 1990 in Deutschland war eine permanente Auseinandersetzung zwischen

zwei konträren Weltsystemen, zwei feindlichen Militärblöcken, zwei gegnerischen Staaten, zwei

grundverschiedenen Idealen und zwei andersartigen Entwürfen für die Zukunft.

 

Wer die DDR einen «Unrechtsstaat» nennt, lässt solche grundlegenden geschichtlichen Zusammenhänge

außer Acht.

Wenige Tage nach ihrer Proklamierung - zunächst nur als provisorischer Staat - erhielten die Repräsentanten

der DDR ein bemerkenswertes Telegramm aus Moskau.

 

Es enthielt die konzentrierte sowjetische Strategie in der Deutschlandfrage.

Der Absender war Stalin. Er schrieb:

 

„Die Bildung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte

Europas» .

 

Um jedes Missverständnis auszuschließen, die Gründung der DDR könne doch als Spaltung Deutschlands

verstanden werden, endet das Telegramm mit dem Satz:

 

„Es lebe und gedeihe das einheitliche, unabhängige, demokratische friedliebende Deutschland.“

 


Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, handelte jedoch nach dem Grundsatz

„Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.“

 

Gegenüber dem französischen Außenminister prahlte er sogar: „Vergessen Sie nie, dass ich der einzige

Regierungschef bin, der die Einheit Europas der Einheit seines Vaterlandes vorzieht.“

Die deutsche Nachkriegsgeschichte vollzog sich nicht vordergründig im Nationalen, sondern im Spannungsfeld

der Großmächte.

Deshalb kann man die DDR auch nicht isoliert vom Verhalten der Großmächte und auch nicht von dem der

Bundesrepublik Deutschland betrachten. 

 

1952 hatte die Sowjetunion gesamtdeutsche Wahlen für ein gesamtdeutsches Parlament vorgeschlagen.

Die Westmächte, einschließlich die Bundesrepublik, lehnten ab. Sie betrachteten die sogenannte Stalinnote

als sowjetische Propaganda. Seitdem wurden die Bedingungen für die deutsche Einheit von Jahr zu Jahr

aussichtsloser.

Die deutsche Spaltung wurde durch die Westintegration der Bundesrepublik zementiert.


Erst jetzt kam in der DDR 1952 der Aufbau des Sozialismus auf die Tagesordnung. Und das unter

Bedingungen eines gespaltenen Landes.

Die daraus entstandenen Schwierigkeiten - wie die Spaltung einer früher einheitlichen Währung und

Wirtschaft, die Zugehörigkeit zu einem der sich feindlich gegenüberstehenden militärischen Bündnissen,

das Grenzregime zwischen ihnen und der Reiseverkehr der Bürger zwischen den Staaten -

haben DDR bis zu ihrem Ende belastet.


Den Westalliierten und den meisten Bundesregierungen war eine gleichberechtigte Vereinigung der BRD und

der DDR stets suspekt. 

Sie setzten auf die »Befreiung des Ostens».

Von Adenauer stammt das Bekenntnis: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste

Provinzen.

Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll

endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole."

 


So ist es keineswegs verwunderlich, dass die deutsche Einheit 1990 nicht ein gleichberechtigter

Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten war, sondern ein Anschluss der DDR an die

Bundesrepublik Deutschland.

Das Gesellschafts- und Rechtssystem der Bundesrepublik wurde der DDR administrativ diktiert, woran das

Zusammenleben der Deutschen bis heute leidet.

 


Bestimmte bürgerliche Historiker verdrängen, dass beide deutsche Staaten von 1949 bis 1989 in einem

erbitterten Bürgerkrieg standen. Kein heißer zwar, aber ein kalter, immer auch am Rande einer

möglichen atomaren Katastrophe.

 

Statt sich zu freuen, dass aus dem kalten kein heißer Krieg wurde, hat sich die politische Elite der

alten Bundesrepublik 1990 dafür entschieden, alles Ungemach der Spaltung Deutschlands allein

der DDR anzulasten.

Deshalb wird bis in die Gegenwart hinein die wahre Geschichte der europäischen und deutschen

Spaltung verzerrt dargestellt.


Trotz ihrer Defizite hat die DDR im Interesse der Menschen Beachtliches geleistet.

 

Sie hatte ein menschenfreundliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell.

Entscheidendes Motiv war nie das Profitinteresse, sondern die Beseitigung der Ausbeutung des

Menschen durch den Menschen.

Sie hatte ein geschlossenes System der sozialen Sicherheit, das Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit,

Kinder- und Altersarmut nicht kannte.

Sie verfügte über ein einheitliches Bildungssystem, in dem es gleiche Chancen für alle Kinder des

Volkes gab, ohne vom Geldbeutel der Eltern abhängig zu sein.


Unbestreitbar bleibt aber vor allem: Solange die Sowjetunion und mit ihr auch die DDR existierten,

gab es in Europa keinen Krieg.

 

Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch:


Das Verschwinden der DDR von der politischen Landkarte ist ebenfalls ein europäischer Wendepunkt.

Zum ersten Mal nach 1945 wurde Krieg in Europa – sogar mit deutscher Beteiligung – wieder möglich.


Die Vision eines friedliebenden Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg möglich schien, zerschellte,

als die US-geführte NATO Jugoslawien bombardierte.

Das atlantische Bündnis machte auf diese Weise aus dem Kalten einen heißen Krieg - mitten in Europa.


Ich bin überzeugt – das wäre zur Zeit der Existenz der UdSSR undenkbar gewesen.

 

Das Datum der Zerschlagung der Sowjetunion war für die NATO das Signal, ihr 1990 gegebenes

Versprechen zu brechen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Aus dieser Gewissheit heraus, teile

ich auch die Analyse des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, dass die Zerschlagung der Sowjetunion

eine globalpolitische Katastrophe war.


Die Auswirkungen dieses Dramas erleben wir bis heute auf Schritt und Tritt.

Vieles, was seit Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Welt

durcheinandergeraten ist – ob in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Libyen oder anderen Teilen der

Welt – ist eng verbunden mit den Folgen der Zerschlagung der UdSSR und den Absichten der USA,

den Rest der Welt nach ihren Vorstellungen zu formen.

 


Für den Untergang der DDR gibt es einen ganzen Knäuel von Ursachen:

Objektive und subjektive, nationale und internationale, ökonomische und politische, vermeidbare

und unvermeidbare.

Viele von ihnen gehen weit vor das Jahr 1989 zurück und über die Grenzen der DDR hinaus.


Müsste ich diesen ganzen Komplex in einem Satz zusammenfassen, würde ich an das Leninwort

erinnern:

«Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der

neuen Gesellschaftsordnung.“


Wahrscheinlich haben wir damals in allen Staaten der europäischen sozialistischen Gemeinschaft

nicht begriffen, dass dieser Satz im Umkehrschluss auch eine Warnung enthält, nämlich die:

Die neue Gesellschaftsordnung wird unterliegen, wenn sie keine höhere Arbeitsproduktivität erreicht

als der Kapitalismus.


Der historischen Gerechtigkeit wegen ist anzumerken, dass dies genau der Ausgangspunkt für die die

strategischen Überlegungen Walter Ulbrichts Anfang der sechziger Jahre war.

Mit dem Neuen Ökonomischen System sollte zu einer Leitung der sozialistischen Wirtschaft mit

vorwiegend ökonomischen Mitteln übergegangen werden.

Dieser hoffnungsvolle Versuch wurde leider 1970 abgebrochen, weil er nicht kompatibel war mit

der Politik der KPdSU.


Es gibt viele Versuche, das Ende der DDR zu erklären.

 

Es greift aber zu kurz, es lediglich auf nationale Gegebenheiten zu reduzieren. Selbst unter den

Linken in Deutschland ist die einseitige Ansicht verbreitet, die DDR «sei an sich selbst gescheitert».


Mindestens zwei weitere Komponenten haben Wesentliches mit dem Untergang der DDR zu tun:


Erstens:


Die Herrschenden in den USA und ihre Verbündeten wollten den Sozialismus vom ersten Tage seiner

Existenz an liquidieren. Natürlich griffen sie Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts

die Gelegenheit beim Schopfe und halfen kräftig nach.


Gorbatschow sprach damals vom «Neuen Denken».

Die Sache hatte nur einen Haken: Der Westen dachte überhaupt nicht daran, neu zu denken.

Die NATO rüstete auf, während die UdSSR das militär-strategische Gleichgewicht aufgab, das viele

Jahre der Garant dafür war, dass aus dem kalten kein heißer Krieg wurde.


Rückblickend auf 1989, erklärte Brent Scowcroft, Sicherheitsberater mehrerer amerikanischer Präsidenten:

 

 

„Wir hatten einen Plan, Gorbatschow nicht.“

 

Das scheint mir der Kern der Sache zu sein, den ich mit eigenem Wissen aus meiner politischen Tätigkeit

ergänzen kann:

 

Zur Jahreswende 1988/89 gab mir Erich Honecker eine streng geheime Information zum Lesen.

Er hatte sie von einer zuverlässigen Quelle aus dem Weißen Haus erhalten.

Darin stand: „Der neue US-Präsident denkt nicht daran, eine strategische Partnerschaft zwischen den

USA und der UdSSR, wie sie Gorbatschow anstrebt, einzugehen. Nicht die USA müssten Gorbatschow

entgegenkommen, sondern Gorbatschow müsse den USA entgegenkommen“.

 

Der Plan der USA wurde auf dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 1989 erörtert.

Die USA sahen in Folge der Entwicklung in der Sowjetunion die Chance, zu erreichen, was ihnen

durch keinen heißen Krieg möglich geworden wäre: Die UdSSR zur Kapitulation zu zwingen.

 


In diesem Plan der Destabilisierung der sozialistischen Gemeinschaft besaß die DDR die Rolle eines

Eckpfeilers.

Mit der Beseitigung der DDR – so die Überlegung – würde die Sowjetunion einen strategischen Partner

und ihr vorderstes Schild gegen die NATO verlieren.


Inzwischen ist klar, dass es den USA keineswegs nur um die deutsche Einheit ging.

Sie war nicht ihr Hauptziel.

Sie war ein Mittel, um die Streitkräfte der UdSSR aus dem Zentrum Europas zu drängen.

Der Warschauer Vertrag wurde einseitig aufgehoben. Die NATO blieb. Die russischen Streitkräfte

zogen aus Mitteleuropa ab.

Die USA setzten sich hier fest. Sie haben in Deutschland nach wie vor Atomwaffen stationiert.

 

Condoleezza Rice, die spätere Außenministerin der USA, bekannte freimütig:

Mit dem vereinten Deutschland, eingebettet in die NATO, war «Amerikas Einfluss in Europa gesichert.»

 

Zweitens:

 

Die DDR war Teil eines Ganzen.

Untergegangen ist ein vorwiegend sowjetisch geprägtes Sozialismusmodell, das vom Stillen Ozean bis

an die Elbe und die Werra reichte.

 

Die DDR war ohne Bündnis mit der Sowjetunion nicht lebensfähig.

 

Dieses Bündnis wurde Ende der achtziger Jahre durch die sowjetische Führung aufgekündigt.

Nicht verbal, aber durch Tatsachen hinter dem Rücken der DDR-Führung

.
Kürzlich haben Gorbatschow-Vertraute 1400 Seiten Protokolle über das politische Konzept ihres

Chefs in den letzten Jahren der Sowjetunion veröffentlicht. Darin sind bemerkenswerte Aussagen auch zur

»deutschen Frage« enthalten.

 

Wenn wahr sein sollte, was da drinsteht, trifft zu, dass Gorbatschow spätestens seit 1987

die DDR als Pfand nutzte, mit dem er wucherte, um das Vertrauen der USA und der alten

Bundesrepublik zu bekommen.

So erscheint auch mein Gespräch, das ich am 1. November 1989 in Moskau mit ihm hatte,

in einem neuen Licht.

Ich fragte ihn: „Michael Sergejewitsch, welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im

gesamteuropäischen Haus ein? Im Westen gibt es Spekulationen, dass im Europäischen Haus für die DDR

kein Platz mehr ist. “


Gorbatschow machte auf mich den Eindruck, als habe er meine Frage nicht verstanden.

 

Ich ergänze daher: «Die DDR entstand nach dem Zweiten Weltkrieg und im Ergebnis des Kalten Krieges.

Sie ist also auch ein Kind der Sowjetunion. Es ist für mich wichtig zu wissen, ob die Sowjetunion zu ihrer

Vaterschaft steht?“

 

„Wo denkst du hin?“ fragte er und informiert mich, dass seine Mitarbeiter kürzlich mit Brzezinski

gesprochen hätten.Sie hätten ihn gefragt, „ob sich die USA eine Wiedervereinigung Deutschlands

vorstellen könnten?“

 


Brzezinski habe geantwortet, „für ihn wäre das der Zusammenbruch“.

 

Als ahnte Gorbatschow mein Misstrauen, sagte er:

„In meinen jüngsten Gesprächen mit Thatcher, Mitterrand, aber auch mit Jaruzelski und Andreotti

ist klargeworden, dass sie von den Realitäten der Nachkriegszeit, einschließlich der Existenz zweier

deutscher Staaten, ausgehen. Die Fragestellung nach der Einheit Deutschlands wird von allen

als äußerst explosiv betrachtet.

Sie wollen auch nicht, dass der Warschauer Vertrag und die NATO aufgelöst werden.

Sie sind für ein Verbleiben Polens und Ungarns im Warschauer Vertrag. Das Gleichgewicht in Europa

darf nicht gestört werden, weil niemand weiß, welche Folgen das hat.“


Das waren klare Worte, die er noch einmal bekräftigte, als er zusammenfasste:

«Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hat sich die Sowjetunion

mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Anti-Hitler-Koalition geeinigt.

Genosse Krenz, übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros“ . 

 

Das, liebe Anwesende, erklärte mir der ranghöchste sowjetische Politiker noch am 1. November 1989!

 

Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass die Führung der Sowjetunion hinter unserem Rücken die

DDR zur Disposition stellt.

 

Liest man heute allerdings, was sein Mitarbeiter Anatoli Tschernjajew nur wenige Tage später seinem

Tagebuch anvertraut haben will, dann wird die Heuchelei deutlich, mit der die DDR behandelt wurde:

 

 

„Eine ganze Epoche des sozialistischen Systems“ so heißt es dort, „ist zu Ende gegangen… Das ist das Ende

von Jalta… Seht, was Gorbatschow gemacht hat. In der Tat, er hat sich als groß erwiesen…“.

 


Noch am 24. November 1989 schickte mir der sowjetische Präsident aber eine Information über die

Vorbereitung seines Treffens mit Präsident Bush auf Malta.

 

Darin versicherte er: «Die DDR war und bleibt unser strategischer Verbündeter».

 

Was ich damals nicht wusste, aber inzwischen durch den außenpolitischen Berater von Bundeskanzler

Helmut Kohl, Herrn Horst Teltschik, dokumentiert ist:

Drei Tage vorher übermittelte ein Vertrauter Gorbatschows an Bundeskanzler Kohl eine «sieben Seiten

umfassende aktuelle Moskauer Erwägung für ein vereintes Deutschland».

 

Diese Doppelzüngigkeit konnte zwar mein Verhältnis zur Sowjetunion nicht erschüttern, hat aber meine

Meinung über Gorbatschow mitgeprägt.

 

Die Tragik besteht darin, dass seine Politik einherging mit der Zerstörung einer Weltmacht, die trotz

aller Unvollkommenheiten eine Alternative zum Kapitalismus war.


Einer Weltmacht, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass Europa von 1945 bis 1990 die längste

Friedensperiode seiner neuesten Geschichte erlebte.

Einer Weltmacht, ohne deren Beitrag zur Zerschlagung des deutschen Faschismus die Menschheit

möglicherweise in die Barbarei zurückgefallen wäre.


Diese welthistorischen Leistungen dürfen trotz notwendiger Kritik am Vergangenen niemals vergessen

werden.

 

Hitler konnte im heißen Krieg die Sowjetunion nicht zerschlagen. Das geschah erst 45 Jahre später infolge

des Kalten Krieges, den beide gesellschaftlichen Weltsysteme gegeneinander geführt haben.

 


Die Welt von heute ist weder gerechter noch sicherer geworden. 1991 kam nicht, wie viele Menschen gehofft

hatten, ein besserer Sozialismus, sondern die Rekapitalisierung Osteuropas.

 


Auch Deutschland ist nach 1990 nicht friedlicher, nicht sozialer, nicht gerechter geworden.

 

Es ist staatsrechtlich zwar vereint, aber sozial, ökonomisch und auch mental weiter gespalten.

Die Gegensätze innerhalb des Landes verlaufen zwischen oben und unten, zwischen arm und reich.


Das Volkseigentum der DDR wurde liquidiert. 5 Prozent davon kam in Privateigentum Ostdeutscher,

85 Prozent ging in westdeutschen und 10 Prozent in internationalen Besitz über.


Im Osten gibt es eine höhere Arbeitslosigkeit als im Westen, die Löhne und Renten sind hier auch

noch´niedriger. 

Der Grundsatz, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen

ist nicht verwirklicht. 

 

Über 100 000 Wissenschaftler der DDR wurden quasi über Nacht zu Rentnern, Frührentnern oder

Arbeitslosen.

 

Gegen Amtsträger der DDR wurden Zehntausende Strafverfahren eingeleitet, mit über 1 000 Verurteilungen,

einschließlich hoher Freiheitsstrafen.


Obwohl Ostdeutschland ca. 20% der Bevölkerung der Bundesrepublik stellt, sind nur ca. 5% der

Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik, Justiz, Armee, Medien, Kultur und Vorständen

von Unternehmen.

 

Dass Bundespräsident und Bundeskanzlerin aus dem Osten kommen, hängt nicht mit deren

DDR-Biografien zusammen.

Vielmehr wurden sie gewählt, nachdem sich westdeutsche Kandidaten für diese Funktionen politisch-

moralisch verbraucht hatten.


Die soziale Spaltung in Deutschland zieht die politische nach sich.

 

Die aufgestaute Unzufriedenheit von Bürgern mit der aktuellen Politik der Merkel-Regierung, ihre

Enttäuschungen über die etablierten Parteien, ihre Verbitterung über nicht eingehaltene Versprechen

haben dazu beigetragen, dass sich in Deutschland innerhalb kurzer Zeit eine rechts von den

Regierungsparteien CDU/CSU ausgerichtete Partei etablieren konnte.

 

Diese Partei steht für Ausländerfeindlich. Sie nennt sich «Alternative für Deutschland».

Der Name ist irreführend, weil ihr reaktionäres und nationalistisches Programm für Deutschland keine

Alternative ist.

Ich unterscheide zwischen den geistigen Brandstiftern einerseits und jenen, die – aus welchen Gründen

auch immer – diese wählen.

Die etablierten Parteien werden begreifen müssen, dass weder Wählerbeschimpfungen noch das

Nachplappern rechter Parolen verlorenes Vertrauen zurückbringen, sondern nur die Hinwendung

zu den tatsächlichen Problemen des Lebens.

 

Vor nunmehr 99 Jahren begann die Oktoberrevolution, die die Welt erschütterte und veränderte.

 

Auch wenn es Historiker und Politiker gibt, die sie inzwischen als «Staatsstreich», als «Putsch» oder «Aufruhr»

herabwürdigen, ist sie nach meiner Überzeugung jene Revolution, die nach der Französischen von 1789

von der Geschichte zu Recht das Attribut «Große» erhielt.

 


Ich stelle mir da schon die Frage: Was wäre wohl aus Europa und der Welt geworden, wenn die Sowjetunion

dem deutschen Faschismus nicht den entscheidenden Schlag versetzt hätte?

Wie hätten sich die Kolonialmächte gegenüber ihren Kolonien verhalten? Der Zerfall des Kolonialsystems

ohne die Wirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ist nicht vorstellbar.

 

Ohne den Sozialismus hätte es möglicherweise nicht nur einen kalten, sondern einen neuen,

dritten heißen Weltkrieg gegeben.

 


Die Geschichte ist kein gradliniger Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt.

Es gibt auch Epochen des Rückschritts und der Stagnation.

Die Entwicklung der Produktivkräfte mit allen ihren Auswirkungen geht trotzdem voran.

 

Damit werden früher oder später neue und sicher aussichtsreichere Versuche zustande kommen,

die Gesellschaft grundlegend zu ändern.

 

Ich bin da ein Optimist.

 

In diesem Zusammenhang erinnere ich an ein Wort des von den deutschen Faschisten ermordeten Vorsitzenden

der Kommunistischen Partei Deutschlands, Ernst Thälmann.

 

Er schrieb angesichts des revolutionären Aufschwungs in China im April 1927: „Die Augen der ganzen

Menschheit sind auf China gerichtet, wo das älteste und größte Kulturvolk der Erde die imperialistischen

Fesseln sprengt, in die es ein Jahrhundert lang geschlagen war.“

 


Wieder schaut die Welt auf China.

 

Wer wirklich Sozialismus will, kommt an den Erfahrungen Ihres Volkes nicht vorbei.

Mir scheint besonders wichtig, dass es ein Sozialismus mit nationaler Prägung ist, der nicht –

wie der untergegangene - ein Modell für alle Länder sein will.

 

Ein Sozialismus als Ziel, als ein Jahrhundertprojekt, das eine sehr langfristige Entwicklung anvisiert.

Ein Sozialismus, der aktiv an der Weltwirtschaft und damit an der internationalen Arbeitsteilung

teilnimmt und so zu raschen Fortschritten in der Produktion und im wissenschaftlich-technischen

Fortschritt gelangt, was dem Wohl des Volkes zugutekommt.

 

Die ökonomische Stärke und der Einfluss der VR China auf die Weltwirtschaft ist bereits so stark, dass sie sie

auf andere Länder ausstrahlt.

 

Am 1. Oktober 1989 hatte ich Gelegenheit in einer persönlichen Begegnung mit Deng Xiao Ping Gedanken

über Reformen im Sozialismus auszutauschen. Auch daraus ist meine Überzeugung gewachsen:

 

Wenn die sozialistische Staatengemeinschaft in Europa in den achtziger Jahren zusammen mit China den Weg

der Reformen gegangen wäre, stünde der Weltsozialismus heute stärker da.

 

Der eingeschlagene Weg der KP Chinas wird neue Probleme und andere Schwierigkeiten hervorbringen als

der untergegangene Sozialismus.

 

Der weitere Erfolg wird aber wesentlich von der aktiven Rolle der Kommunisten und der Qualität ihrer

ideologischen Arbeit abhängen, vor allem vom Vertrauensverhältnis der Bürger zu ihrem Staat.

 

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

 

ich habe darauf verwiesen, dass nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik

ca.100 000 Wissenschaftler aus Akademien, Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen

der DDR entfernt wurden.

Darunter auch ein ehemaliger Kollege von Ihnen, Professor Alfred Kosing.

Er war Bereichsleiter für Dialektischen Materialismus des Institutes für marxistisch-leninistische Philosophie

der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in der DDR. Er hat seit 1990 dennoch privat seine

Forschungsarbeit fortgesetzt und sein 1985 in der DDR erschienenes «Philosophisches Wörterbuch»

überarbeitet.

 

Entstanden ist ein umfangreiches «Marxistisches Wörterbuch der Philosophie», das durchaus ein

streitbarer Beitrag zum Thema dieser Konferenz sein kann.

Ich erlaube mir, es Ihnen zu überreichen.